Gewalt formt und durchzieht alltagskulturelle Diskurse und Praktiken und ist als ambivalentes Phänomen mit vielfältigen, teils konträren Bedeutungen aufgeladen. Sie ist sowohl disruptiv als auch produktiv, kann Leben zerstören oder schützen, Ungleichheit erzeugen oder reduzieren, Macht begründen und festigen, aber auch bestehende Verhältnisse aufbrechen. Gewalt hat damit das Potential, soziale Welten zu erodieren und zu gestalten.
In ihren unterschiedlichen Ausprägungen zeigt sich Gewalt individuell, kollektiv, in kulturellen, politischen oder religiösen Kontexten, als physische und psychische Gewalt sowie in gesellschaftlichen Strukturierungen, Techniken, Artefakten und Infrastrukturen oder als epistemische Gewalt, in westlichen und weißen Wissensregimen. Machtverhältnisse schreiben sich als symbolische Gewalt in Körper und Verfahrensweisen ein. Im Kontext des Anthropozäns wird (ökologische) Gewalt gegen nicht-menschliche Akteur:innen virulent. Diese ist eng verflochten mit der durch kapitalistische und neoliberale Logiken befeuerten ökonomischen Gewalt, die Ungleichheit hervorbringt. Analytisch lässt sich Gewalt unterscheiden vom verwandten Konzept der Macht: Gewalt bedeutet, Macht durchzusetzen, indem die Möglichkeiten anderer eingeschränkt werden oder ihnen Leid zugefügt wird.
Die Ausübung physischer Gewalt wird erleichtert durch Mechanismen des Otherings wie Enthumanisierung und Depersonalisierung. Kontrollierter, ’rationaler’ Gewalt, eingehegt durch Affektkontrolle oder Gesetze, steht mit Irrationalität konnotierte, unkontrollierte und unberechenbare Gewalt gegenüber. Das Spektrum der Gewalt umfasst subtile, abstrakte, unsichtbare Formen und alltägliche Mikrogewalt bis hin zu eruptiver Gewalt als Ausnahmesituation (z.B. Genozid). Gewalt verschiebt Maßstäbe der Normalität, verändert Empfindungen und Kognitionen, affiziert den Körper und richtet Subjekte zu.
Gewalt betrifft verschiedene Menschen unterschiedlich. Insbesondere marginalisierte Gruppen sind ihr ausgeliefert, seien es Frauen, Queers, rassifizierte Personen, Menschen mit Disabilities oder andere Personen, die von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betroffen sind. Opfer- und Täter:innenrollen können intersektional verschränkt sein. Dennoch ist Gewalt im Kontext immer noch wirkmächtiger patriarchaler Normen tiefgreifend vergeschlechtlicht: die überwiegende Zahl der Gewaltausübenden sind Männer, gleichzeitig wird dies jedoch als geschlechtsadäquates Verhalten normalisiert. Frauen werden dagegen vorwiegend als Opfer figuriert, weibliche Gewalt erscheint als deviant und monströs.
Gewalthandeln stößt auf unterschiedliche Grade der Akzeptanz, mit denen stets Effekte der Naturalisierung oder Skandalisierung verbunden sind: sie kann akzeptiert sein oder sogar als sinn- und gemeinschaftsstiftend, als notwendiger oder konstitutiver Bestandteil der sozialen Ordnung wahrgenommen werden, z.B. wenn sie der Sühne, der Disziplinierung oder Sanktionierung oder zur Selbstverteidigung dient. Gewalt kann sich jedoch auch als illegitim oder gar als Zivilisationsbruch präsentieren, wenn sie geltenden Normen zuwiderläuft.
Dass die Einhegung von Gewalt nicht als fortschreitender Zivilisationsprozess beschrieben werden kann, zeigen unter anderem die jüngsten Entwicklungen. Kriegsgewalt gewinnt als Mittel internationaler Auseinandersetzungen wieder an Bedeutung, ökonomische Gewalt zeigt sich in immer stärkeren Ungleichheiten und diskursive Gewalt bestimmt zunehmend gesellschaftliche und politische Aushandlungsprozesse, in Polarisierung, Verrohung und der abnehmenden Toleranz gegenüber anderen Auffassungen. In unserer Tagung wollen wir daher historische sowie gegenwartsorientierte Perspektiven auf Strukturen, Praktiken und Konjunkturen von Gewalt richten. Wie konstituieren sich Gewalträume und Topographien der Gewalt und durch welche Ermöglichungsbedingungen wird sie befeuert? Wie wird Gewalt erfahren und welche Sinnkonstruktionen und Narrative lagern sich an Gewaltphänomene an? Wie können wir Gewalt überhaupt erforschen und welche forschungsethischen Fragen stellen sich in gewaltförmigen Umgebungen?
Von Interesse sind unter anderem folgende alltagskulturelle Themen, Forschungsfelder, Manifestationen und Diskursivierungen von Gewalt (die selbstverständlich erweitert werden können):
- populärkulturelle Formen von Gewalt und ihre Medien, Inszenierungen und Ästhetiken, z.B. True-Crime-Formate, Horrorfilme, Games, Memes etc.
- organisierte Gewalt, etwa Polizei, Justiz, Kriminalität sowie Militär, Krieg, Revolution und Widerstand
- öffentliche und private Gewaltorte: Schlafzimmer, Internet/social media, Disziplinierungsorte (Schulen, Heime, Gefängnisse)
- Infrastruktur und Technik (z.B. Gewalt durch Normierung und Standardisierung)
- Konnex von Gewalt und Herrschaftssystemen, Ideologien und Ökonomien, z.B. Faschismus, Kapitalismus, Religion, Politik, Patriarchat
- intersektionale Perspektiven von Gewalt im Kontext von gender, race, ethnicity, disability und anderen Differenzkategorien
- Gewalt und Grenzregime/Migration
- Umgang mit Gewalt in der Vergangenheit: Erinnerungskultur, "Täterorte" und Gedächtnis, (post-)heroisches Erinnern
- Sprache und Narrative: Verrohung, performative Sprechakte
- epistemische Gewalt, Wissen und Macht, post- und dekoloniale Perspektiven
- Gewalt in Sammlungen: Museumsdinge, Objekte und Oral History-Zeugnisse
- Gewalteffekte: (Selbst-)Viktimisierung, Emotionen, Affektivität und Gewalt (Traumatisierung)
- Faszinationen: Freude und Lust sowie ludische Aspekte der Gewalt
- Ritualisierungen von Gewalt
- Kulturelle Figurationen: Täter:innen, Kriminelle, Sozialrebell:innen, edle Krieger:innen, Märtyrer:innen
- kulturwissenschaftliche Ansätze zur Theoretisierung von Phänomenen der Gewalt
Wir freuen uns auf die Einreichungen von Beiträgen aus der Empirischen Kulturwissenschaft, Europäischen Ethnologie, Kulturanthropologie und Volkskunde sowie aus Nachbardisziplinen, aus dem Umfeld der Universitäten, der angewandten Forschung und den Museen. Neben wissenschaftlichen Vorträgen sind auch andere Formate möglich und erwünscht. Studentische Beiträge sind willkommen.
Organisatorische Hinweise
Beachten Sie bei der Einreichung Ihrer Abstracts bitte folgende Vorgaben:
- Die Abstracts müssen außer einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung Angaben über die Fragestellung und die empirische Basis enthalten bzw. Auskunft über den Kontext geben, in dem der Beitrag (ent-)steht.
- Die Abstracts sollen 2.500 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten.
- Beiträge können in deutscher oder englischer Sprache präsentiert und veröffentlicht werden.
- Es muss sich um neue und bislang unveröffentlichte Beiträge handeln. Die Bereitschaft zur Beteiligung an der anschließenden Publikation wird vorausgesetzt.
- Bitte geben Sie Ihre aktuellen Kontaktdaten an (vollständige Adresse, gegebenenfalls Institution, E-Mail-Adresse und Telefonnummer).
Die Einreichungen und etwaige Rückfragen richten Sie bitte an folgende E-Mail-Adresse:
kulturendergewalt@uibk.ac.at
Einsendeschluss ist der 1. Dezember 2025.
Die Möglichkeit zur Übernahme von Reisekosten und Übernachtungen ist beschränkt auf Teilnehmer:innen in prekären Situationen. Bitte nutzen Sie nach Möglichkeit Ihre institutionellen Budgets.
Der Vorstand der ÖGEKW wird gemeinsam mit Vertreter:innen des lokalen Ausrichters die Beiträge auswählen und das Programm zusammenstellen. Eine Benachrichtigung über Annahme oder Ablehnung erfolgt bis Mitte Januar 2026.
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